Zusammenfassung
Marx und Simmel gehören zur Tradition der Moderne, die seit Rousseau und Hegel die moderne Gesellschaft für verschiedene Phänomene der „Entfremdung“ kritisiert. Während der junge Marx noch eindeutig „Entfremdung“ negativ bewertet, analysiert und bewertet der reife Marx des Kapitalbuches Entfremdungsphänomene als differente „Verdinglichungen“ und „Vergleichgültigungen“ und bewertet diese Indifferenzen kontextspezifisch positiv oder negativ. Ihm folgt Georg Simmel, der besonders in seiner „Philosophie des Geldes“ Indifferenz als Signatur der modernen Gesellschaft bestimmt und für ihre negativ bewerteten Auswirkungen positive Kompensationen aufzeigt und verfolgt. Der Aufsatz skizziert Marxens Analyse und Kritik von Kapital-verursachten Indifferenzen und verfolgt dann Simmels mehr kulturphilosophische Diagnosen von gesellschaftlichen Indifferenzen an den Phänomenen „Lebensstil“, „Ästhetisierung des Lebens“, „Tragödie der Kultur“ u. a. mehr, die alle auf die Frage hinauslaufen: Warum gelingt der Übergang von modernen Befreiungsprozessen durch Indifferenzen zu neuen Bindungen nicht „vollständig“?
Abstract
Marx and Simmel belong to the tradition of modernity that, since Rousseau and Hegel, criticized modern society for various phenomena of “alienation”. While the young Marx still clearly evaluates “alienation” negatively, the mature Marx of the capital book analyses and evaluates alienation phenomena as differentiated “reification” (Verdinglichung) and “comparison validations” (Vergleichgültigung). He evaluates these indifferences context-specifically positively or negatively. He is followed by Georg Simmel, who, especially in his “Philosophy of Money”, defines indifference as the signature of modern society and points to positive compensations for their negatively evaluated effects. The essay outlines Marx’s analysis and critique of capital-induced indifferences, and, based on that, pursues Simmel’s more cultural-philosophical diagnoses of social indifferences to the phenomena of “lifestyle”, “aestheticization of life”, “tragedy of culture”, and others. All of these phenomena amount to the question: Why doesn’t the transition from modern liberation processes through indifferences to new bindings succeed “completely”?
Notes
Zudem kann man, mit Hegel und Marx, zwischen „Ding“ und „Sache“ als einem nützlichen Ding unterscheiden, siehe Ritter 1977, S. 268 f.
Für eine genauere Interpretation siehe Lohmann 1991.
Cf. Aristoteles, Metaphysik, Buch 1, Kap. 3, 983a 24 ff., siehe auch Lohmann 1991, S. 146 ff.
Ich beziehe mich im Folgenden hauptsächlich auf Simmels zweite Periode seines Werkes (1895 bis 1908), deren Hauptwerk Die Philosophie des Geldes (1900; 2. Aufl. 1907) ist. Ich zitiere Die Philosophie des Geldes hier nach der 7. Auflage, Simmel 1977.
Simmel folgt hier Nietzsches „Pathos der Distanz“, siehe dazu K. Lichtblau 1984, S. 231 ff.
Man muss/kann eine quantitative oder funktionale Form von Individualität von einer qualitativen unterscheiden: die „individuelle Unabhängigkeit“ und die „persönliche Sonderart“. Ausführlicher dazu Lohmann 1993.
Das ist der Titel eines Buches von F. Scholz über N. Luhmann, vgl. F. Scholz 1982.
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Dies ist die überarbeitete Version meines Textes „The ambivalence of indifference in modern society: Marx und Simmel“, erschienen in L. W. Isaksen/M. Waerness (Hrsg.), Individualität und Modernität. Georg Simmel und die Moderne Kultur, Soziologie Verlag Bergen, 1993, S. 41-60, 140-142.
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Lohmann, G. Die Ambivalenz der Indifferenz in der modernen Gesellschaft: Marx und Simmel. ZEMO 2, 75–93 (2019). https://doi.org/10.1007/s42048-019-00039-2
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DOI: https://doi.org/10.1007/s42048-019-00039-2
Schlüsselwörter
- Karl Marx
- Georg Simmel
- Indifferenz
- Entfremdung
- Verdinglichung
- Lebensstil
- Ästhetisierung des Lebens
- Tragödie der Kultur
- Moderne