Zusammenfassung
Nach den überaus glänzenden Ergebnissen, welche die experimentierende Physik in enger Verbindung mit der Theorie in den letzten Dezennien gewonnen hat, kann an der atomistischen Konstitution der Naturkörper kein Zweifel mehr walten. Aber nicht vom Aufbau der Körper aus unteilbaren Elementarquanten, Elektronen und Atomkernen, soll hier in erster Linie die Rede sein, sondern unsere Frage zielt tiefer: was ist die „Materie“, aus denen diese letzten Einheiten selber bestehen? Seit altersher hat die Philosophie darauf eine Antwort zu geben versucht. Der empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung liegt bewußt oder unbewußt eine bestimmte Vorstellung über das Wesen der Materie a priori zugrunde, und das Tatsachenwissen muß schon gewaltig in die Breite und Tiefe gewachsen sein, ehe es die Kraft gewinnt, von sich aus modifizierend auf diese Vorstellungen einzuwirken.
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Literatur
Essay concerning human understanding, 2. Buch, Kap. 27, § 3.
Werke, Bd. 2, S. 432.
Im „Saggiatore“, z. B. Op. II, S. 340.
In des Lucretius Lehrgedicht de verum natura tritt ein Argument für die Atomistik auf, das an den in neueren kosmologischen Betrachtungen eine große Rolle spielenden „Verödungseinwand“ Einsteins gegen den unendlichen Raum anklingt: Alles löst sich leichter auf, als es sich bildet; darum müßte ohne Atome die Materie längst zerfallen sein.
Es ist das ein gelegentlicher Einwand des Aristoteles, welcher fragt, warum zwei Atome in der Berührung nicht miteinander verschmelzen wie zwei Wassermassen, die zusammentreffen. Die heutige punktmengen-theoretische Analysis wird diesem Unterschied zwischen zwei sich berührenden Kontinuen und dem kleinsten, sie beide umfassenden Kontinuum kaum gerecht; es sind aber von Brouwer und dem Verf. die Grundlagen einer mit dem anschaulichen Wesen des Kontinuums in besserem Einklang stehenden Analysis entworfen worden, in welcher der alte Grundsatz zu seinem Rechte kommt, daß „sich nur trennen läßt, was schon getrennt ist“ (Gassendi). In physikalischer Hinsicht ist es auch für uns heute noch ein Problem, wie es kommt, daß Elektron und Proton, das Atom der negativen und der positiven Elektrizität nicht, der elektrischen Anziehung folgend, zusammenstürzen zu einem neutralen Elementarkörper. Die Antwort darauf erwarten wir von der Dynamik; vgl. Abschn. III und IV.
Vgl. dazu Locke, a. a. O., das ganze 27. Kapitel des 2. Buches über Identität und Verschiedenheit.
Leibniz: Mathematische Schriften, ed. Gerhardt II, S. 139. — Im gleichen Sinne: Locke, a. a. O., 2. Buch, Kap. 4, namentlich § 4.
Die Atomistik war als die Philosophie des „gottlosen“ Epikur im Mittelalter — ebenso schon bei den Kirchenvätern — sittlich-religiös im höchsten Maße anrüchig. Noch 1624 wurde sie in Paris, als sie in dem Kreis um Gassendi schon lebhaft diskutiert wurde, durch Parlamentsbeschluß bei Todesstrafe verboten.
Principia philosophiae, Teil II, § 34.
Arkiv för Matem., Astron. och Fysik Bd. 4, Nr. 24, 1908. Vgl. auch das Referat von Bernheimer in Naturwissenschaften Bd. 10, S. 481. 1922.
Übersetzung von A. Lottermoser, Leipzig 1914, S. IX.
Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß seit Aufstellung der allgemeinen Relativitätstheorie eigentlich Demokrit wieder recht bekommt.
Theorie der Elektrizität, Bd. II (Teubner 1905).
Nur um der größeren Bestimmtheit willen schreibe ich diese Gesetze hin; Leser, welchen die mathematische Symbolik nicht vertraut ist, sollen sich dadurch nicht abschrecken lassen!
Legt man der Berechnung der trägen Masse in analoger Weise den Impuls des Feldes zugrunde, welches gemäß den Maxwellschen Gleichungen das mit der Geschwindigkeit v gleichförmig bewegte Elektron umgibt, so bekommt man einen Wert, der 3/4 mal so groß ist. Die alte, an die Substanzvorstellung gebundene Elektronentheorie mußte in dieser Diskrepanz ein ernsthaftes physikalisches Problem erblicken. Vgl. die Bemerkung darüber auf S. 18.
Ann. d. Physik, Bd. 37, 39, 40. 1912/1913.
Natürlich würde in einer solchen Elektrodynamik auch die in der Fußnote auf S. 7 erwähnte Frage des Aristoteles ihre Lösung finden; wir wüßten ebensogut, warum Proton und Elektron nicht zusammenschmelzen, wie wir verstünden, warum im Räume des Elektrons die negativen Ladungen nicht auseinanderplatzen.
Ich zitiere aus Humes Traktat über die menschliche Natur, Teil IV, Abschn. 6: „Unser Hang, die Identität mit der Beziehung zu verwechseln, ist groß genug, um den Gedanken in uns entstehen zu lassen, es müsse neben der Beziehung noch etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles da sein, das die zueinander in Beziehung stehenden Elemente verbinde.“ Ebenda Abschn. 3: „So sieht sich auch hier die Einbildungskraft veranlaßt, ein Unbekanntes Etwas oder eine ‚ursprüngliche Substanz oder Materie‘ zu erdichten und hierin das die Einheit oder den Zusammenhang der Erscheinungen herstellende Prinzip zu sehen.“
J. Petzoldt: Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen Positivismus aus. (3. Aufl., Teubner 1921). E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. (Berlin 1910.)
Es überkreuzt sich freilich diese naturphilosophische Auffassung des Verhältnisses von Stoff und Form mit einer mehr logischen, nach welcher jedes konkrete Einzelding volle Wirklichkeit beanspruchen kann, die Form eines solchen Dinges nirgendwo noch eine Möglichkeit weiterer Ausfüllung offen läßt, und der Stoff über diesen Wesensbestand an „Form“ hinaus ihm lediglich (als principium individuationis) die individuelle Existenz verleiht.
Das Gilbertsche Prinzip, daß alle Naturgewalt in den Körpern selbst enthalten und begründet ist, bildet das Thema des nachfolgenden Dialogs. — Vgl. ferner E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (Berlin 1906/07), Bd. I und II; O. Becker: Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. 6, 1923 (meines Erachtens bei weitem die gründlichste moderne Bearbeitung des philosophischen Raumproblems).
Vgl. dazu Weyl: Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, Math. Zeitschr. Bd. 10, S. 39. 1921. Aristoteles bemerkt zum Zenonischen Paradoxon (Physik, Kap. VIII): „Wenn man die stetige Linie in zwei Hälften teilt, so nimmt man den einen Punkt für zwei; man macht ihn sowohl zum Anfang als zum Ende, indem man aber so teilt, ist nicht mehr stetig weder die Linie noch die Bewegung… In dem Stetigen sind zwar unbegrenzt viele Hälften, aber nicht der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit nach.“ Das Gegebene ist, darin hat Hume recht, nicht unendlich teilbar, unterhalb einer gewissen Schranke hört jede Unterscheidbarkeit auf. Das wirkliche Ding aber ist eine Grenzidee, entfaltet nur in einem auf jeder Stufe ins Unendliche hinein offen bleibenden Prozeß seinen „inneren Horizont“. Das wird in den angeführten Worten von Aristoteles vortrefflich ausgedrückt. Die Grenzidee wird uns in dem Maße anschaulich, als beim weiteren Hineingehen in den Innenhorizont gewisse anschaulich auffaßbare Momente sich konstant erhalten. Vgl. dazu das Zitat aus Perrins Buch über die Atome auf S. 12 und die Ausführungen über Limesbildung bei O. Becker: a. a. O.
Natürlich ist dabei der gewaltige Unterschied zwischen der Platonischen, der Aristotelischen und der Mieschen Auffassung des Weltgeschehens nicht zu verkennen. Das unterscheidende Prinzip liegt dort, wo sich nach jeder dieser Theorien der Heraklitische Fluß „zum Starren waffnet“: für Aristoteles in den immanenten zweckbestimmten Formen, für Platon in den transzendenten Ideen, für Mie in dem bindenden funktionalen Feldgesetz. — Über Platon vgl. das schöne Buch von E. Frank: Plato und die sog. Pythagoreer (Halle 1923), über die Abhängigkeit der Aristotelischen Physik von der Akademie: W. Jaeger, Aristoteles (Berlin 1923).
Von einer anderen möglichen Interpretation möchte ich wenigstens hier absehen, da sie sachlich und historisch von keinem Belang ist.
Im ganzen, scheint mir, ist die Physik kein Ruhmesblatt im Buch der Cartesischen Philosophie; sie ist weder durch Klarheit des Denkens noch durch einen höheren Grad intuitiven Naturverständnisses ausgezeichnet.
Die Annahme einer qualitativ nicht charakterisierten Substanz führt, wie wir im Abschnitt I sahen, notwendig zum Atomismus; jede Fluidumtheorie also, die an der kontinuierlichen Raumerfüllung festhalten will, muß, zu Ende gedacht, Feldtheorie werden.
W.Thomson: On Vortex Atoms, Phil. Mag. (4) Bd. 34. 1867; V. Bjerknes: Vorlesungen über hydrodynamische Fernkräfte (Leipzig 1900); A. Korn: Mechanische Theorie des elektromagnetischen Feldes, Physik. Zeitschrift Bd. 18, 19, 20. 1917/1919.
Principia, Ende des 3. Buches.
Wie schwierig es noch den Zeitgenossen Galileis war, die Vorstellung einer kontinuierlich anwachsenden Geschwindigkeit zu fassen, geht aus der ausführlichen Diskussion darüber im „Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme“ hervor. (Übersetzung von E. Strauss, Teubner 1891, S. 21–30.)
Auch diese Ansicht ist schon im Altertum vorgebildet durch die Pythagoreer, die so offenbar das Feldkontinuum des Anaxagoras mit dem Atomismus Demokrits versöhnen wollten. Sie findet sich außerdem, aus analogen Motiven entsprungen bei Boscovich und in Kants Jugendwerk „Physische Monadologie“.
Nichts illustriert vielleicht besser seine Zeitgebundenheit als sein Versuch, mit metaphysischen Gründen die anziehende Kraft als eine unmittelbar in die Ferne, die abstoßende als eine nur in der Berührung wirkende zu erweisen.
Kürzlich hat Einstein den Gedanken ausgesprochen, durch überbestimmte Gleichungen im Rahmen der Feldtheorie den Quantentatsachen zu Leibe zu rücken. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1923, S. 359.
Vgl. Weyl: Raum, Zeit, Materie (5. Aufl., Springer 1923), S. 275 und § 38.
Doch kann man natürlich nach wie vor von einem Radius des Elektrons sprechen im Sinne des Zusatzes (6) zu S.35. — Auch hier lassen sich Möglichkeiten für die Erklärung der Gleichartigkeit aller Elektronen denken; der Umstand, daß die Gravitationsanziehung zweier Elektronen ungefähr 1042mal so schwach ist wie die elektrische Abstoßung, das Auftreten einer reinen, dimensionslosen Zahl von dieser Größenordnung am Elektron, ist ohnehin ein böses Fragezeichen für die Miesche Auffassung; das scheint darauf hinzuweisen, daß für die Konstitution des einzelnen Elektrons die Anzahl aller in der Welt vorhandenen Elektronen von Bedeutung ist.
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Weyl, H. (1924). Was ist Materie?. In: Was ist Materie?. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-98951-3_1
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